8. Station: Kampstr. 27

Ehepaar Leeser, Ehepaar Meyer, Schwestern Emma Friederike und Frieda Meier

Ehepaar Leeser

Im Hause Kampstraße 27 befand sich bis 1938 die Praxis des jüdischen Rechtsanwalts Dr. Eugen Leeser. Er wohnte hier auch mit seiner Familie.

Eugen Leeser wurde am 17. März 1883 in Dülmen Kreis Coesfeld geboren. Er studierte in München, Berlin und Münster Rechtswissenschaften. Am 27. August 1906 trat er in den Justizdienst ein und wurde an mehreren westfälischen Gerichten ausgebildet. Am 23. Dezember 1912 erhielt er die Zulassung als Rechtsanwalt, zunächst in Hagen, dann, am 12. März 1919, in Minden. Ein Jahr später erhielt er auch die Zulassung als Notar.

Während seiner Referendarzeit leistete er seinen Militärdienst vom 1. Oktober 1906 bis zum 30. September 1907 beim Königlich Bayerischen Feldartillerie-Regiment in Fürth. Er verließ den Dienst als Unteroffizier. Während des Ersten Weltkriegs kämpfte er an verschiedenen Schauplätzen in Frankreich; 1917 wurde er mit dem Eisernen Kreuz 2. Klasse und dem Bayrischen Militärverdienstkreuz ausgezeichnet.

Nach der Demobilisierung kam er nach Minden, wo er von nun an als Rechtsanwalt und Notar arbeitete. Er engagierte sich in der Mindener jüdischen Gemeinde, in der er stellvertretender Vorsitzender des „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV)“ war. 1924 heiratete er die am 14. November 1891 in Münster geborene Elisabeth Meyer. Auch sie war Jüdin. Das Ehepaar bekam zwei Söhne: Der ältere, Hans, wurde am 11. September 1925 geboren, der jüngere, Gerhard, am 3. November 1926.

1934 musste auch Eugen Leeser, wie alle Anwälte, den Treueeid auf den Führer Adolf Hitler leisten. Grundlage war das nach dem Tode des Reichspräsidenten Hindenburg erlassene „Gesetz über die Vereidigung der Beamten und Soldaten“ vom 20. August 1934. Seine Praxis litt dennoch unter den antijüdischen Boykottmaßnahmen. Am 14. November 1935 wurde ihm das Amt des Notars entzogen. 1938 wurde er auch aus seinem Beruf als Rechtsanwalt verdrängt; er durfte nur noch als „jüdischer Rechtskonsulent“ arbeiten und nur jüdische Mandanten vertreten.

In der Anwaltspraxis von Eugen Leeser arbeitete ein zweiter jüdischer Rechtsanwalt, Dr. Gerhard Caspary. Dieser erhielt schon im Mai 1933 Berufsverbot und verließ rechtzeitig Deutschland; er emigrierte nach Brasilien und lebte nach dem Kriege in Sao Paulo.

Eugen Leeser wurde, wie viele andere Juden, nach der Pogromnacht am 10. November 1938 von der Gestapo verhaftet. Er wurde zunächst nach Bielefeld und von dort in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Nur wenige Tage später, am 20. November 1938, ist er dort unter ungeklärten Umständen umgekommen. Die offizielle Todesursache lautete „Schlaganfall“. Seine Leiche wurde verbrannt. Das war üblich, um Nachforschungen der Angehörigen unmöglich zu machen. Die Urne wurde auf dem jüdischen Friedhof in Minden beigesetzt.

Am 1. Dezember 1938 wurde Dr. Eugen Leeser nachträglich aus der Liste der Rechtsanwälte gestrichen.

Seine Witwe, Elisabeth Leeser, lebte allein in der eigenen Wohnung weiter. Die beiden Söhne konnten 1938 als Zwölf- bzw. Dreizehnjährige mit einem der Kindertransporte Deutschland verlassen; sie kamen nach England und haben so das Naziregime überlebt. Die Unterlagen geben über das weitere Schicksal von Elisabeth Leeser keine eindeutige Auskunft. Sicher ist, dass sie nach der Verhaftung durch die Gestapo über Bielefeld in das Ghetto Riga und weiter in das Konzentrationslager Stutthof deportiert wurde. Ob ihre Verschleppung aus Minden am 13. Dezember 1941 oder im Sommer 1943 geschah, ist nicht zweifelsfrei festzustellen. Die Mindener Jüdin Meta Blau geborene Samuel, die nach dem Kriege nach Minden zurückkehren konnte, hat eidesstattlich versichert, Elisabeth Leeser in Stutthof gesehen und gesprochen zu haben. Sie habe gesehen, dass sie eines Tages zu einem Vernichtungstransport eingeteilt worden und nicht wieder zurückgekehrt sei. Elisabeth Leeser wurde amtlich zum 8. Mai 1945 für tot erklärt.

Nach der Verschleppung Elisabeth Leesers wurde der Hausrat der Familie beschlagnahmt. In dem Entschädigungsverfahren, das die beiden Söhne nach dem Kriege anstrengten, stellte sich heraus, dass das gesamte sehr wertvolle Eigentum weit unter Wert für 381,- RM von der Stadt Minden ersteigert worden war; der Erlös war an die Oberfinanzdirektion Münster geflossen. Wer die einzelnen Teile des Hausrats bekommen hat, war nicht mehr festzustellen. Die beiden Söhne erhielten als Erben eine Entschädigung von zusammen 2.000,- DM.

Ehepaar Meyer

Im Hause Kampstraße 27 wohnten vor ihrer Deportation auch Dr. Max Meyer und seine Frau Elfriede. Hier war ihre letzte selbst gewählte Wohnung.

Max Meyer wurde am 1. Juni 1885 als Kind jüdischer Eltern in Münster geboren. 1904 legte er dort am Städtischen Gymnasium das Abitur ab. Vermutlich zu diesem Zeitpunkt konvertierte er zum evangelischen Glauben. Ab 1904 studierte er Rechtswissenschaften in Freiburg, München, Berlin und Münster. 1907 schloss er sein Studium mit der Ersten Staatsprüfung ab; 1910 promovierte er zum Dr. jur. Bis 1919 vervollständigte er seine Ausbildung an verschiedenen westfälischen Gerichten, bevor er 1920 die Zulassung als Rechtsanwalt und 1925 die als Notar erhielt.

1907/08 leistete er den Militärdienst beim 1. Bayrischen Infanterieregiment in München ab. Er nahm am 1. Weltkrieg als Offizier und Kompanieführer teil und wurde mit dem Eisernen Kreuz I. und II. Klasse ausgezeichnet.

1919 heirateten Max Meyer und die am 3. Februar 1896 geborene Elfriede Feibes. Sie war und blieb Jüdin. Nach ihrem Abitur an der Evangelischen Höheren Töchterschule in Münster betreute sie während des Krieges Kleinkinder. Im Wintersemester 1918/19 begann sie ein Medizinstudium, das sie nach drei Semestern abbrach, als sie heiratete. Elfriede Meyer litt wohl schon seit den zwanziger Jahren an einer chronischen Erkrankung des Nervensystems, die sich weiter verschlimmerte und fast bis zur Erblindung führte. Sie war deshalb über einen langen Zeitraum pflegebedürftig.

Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor: Friedrich, genannt Fritz, wurde am 9. Oktober 1921 geboren, seine Schwester Ursula am 27. Mai 1925. Beide konnten 1939 rechtzeitig aus Deutschland nach England emigrieren und so das Naziregime überleben.

Die Familie wohnte in Münster in der Rudolfstraße 20, wo Dr. Max Meyer auch seine Anwaltspraxis betrieb. Das Haus war Eigentum seiner Frau.

Max Meyer musste 1934 den Treueeid auf den „Führer“ Adolf Hitler leisten. Noch im Dezember 1934 (!) wurde ihm das „Ehrenkreuz für Frontkämpfer“ verliehen. Trotzdem wurde ihm 1935 die Zulassung als Notar entzogen, 1938 auch die als Rechtsanwalt. Bis Ende Januar 1939 durfte er nur noch als „jüdischer Rechtskonsulent“ tätig sein, danach war er berufslos.

Nach der Pogromnacht 1938 erwog die Familie die Auswanderung aus Deutschland. Der Plan scheiterte, weil sie durch die erzwungene Zahlung der „Judenvermögensabgabe“ in Höhe von 52.000,- RM und der „Reichsfluchtsteuer“ sowie die Sperrung des restlichen Vermögens mittellos geworden war.

Anfang 1940 zog Elisabeth Leeser, die Schwester Max Meyers, nach der Ermordung ihres Mannes Eugen Leeser von Minden nach Münster, wo sie im Hause des Ehepaares Meyer unterkam. Dieses Haus wurde im Juli 1941 bei einem Bombenangriff zerstört. Die Bewohner wurden in ein sog. „Judenhaus“ in Münster eingewiesen. Ende August 1941 durften Max und Elfriede Meyer zusammen mit Elisabeth Leeser nach Minden umziehen, wo sie jetzt im Hause Kampstraße 27 lebten, das Elisabeth Leeser gehörte. Am 1. Mai 1942 wurden sie in das jüdische Gemeindehaus in der Kampstraße 6, das von den Nazis zu einem der sog. „Judenhäuser“ Mindens umfunktioniert worden war, zwangseingewiesen.

Am 28. Juli 1942 wurde das Ehepaar Meyer verhaftet und zusammen mit vielen anderen Jüdinnen und Juden aus Minden zunächst nach Bielefeld verbracht, von wo sie drei Tage später in das KZ Theresienstadt deportiert wurden. Einige Tage vor der Deportation verabschiedete sich Max Meyer von einem nichtjüdischen Bekannten in Minden mit den Worten: „Was habe ich Unrecht getan, dass wir so leiden müssen? Ich bin Kriegsbeschädigter und habe meine Gesundheit für mein Vaterland geopfert.“ Er kam am 29. Januar 1944 im KZ Theresienstadt um. Elfriede Meyer wurde am 16. Oktober 1944 nach Auschwitz deportiert, wo sie vermutlich gleich nach ihrer Ankunft ermordet wurde.

Schwestern Emma Friederike und Frieda Meier

Wahrscheinlich seit 1939 wohnten im Hause Kampstraße 27 auch die jüdischen Schwestern Frieda und Emma Friederike Meier. Über sie sind nur sehr wenige Unterlagen überliefert. Ihre Eltern, Moritz Meier und Ida Meier geborene Blumenau, beide aus Minden, und auch ihr Bruder Julius starben vor der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Da beide Schwestern unverheiratet blieben, hinterließen sie keine Nachkommen. Deshalb gab es nach dem Ende der Naziherrschaft offenbar niemand, der sich um die Aufklärung ihrer Schicksale bemüht hätte. Sicher ist, dass es nach 1945 keine Lebenszeichen von beiden mehr gab.

Frieda Meier wurde am 2. November 1881 in Minden geboren, Emma Friederike Meier am 23. Februar 1885 ebenfalls in Minden. Beide wohnten von Geburt an im elterlichen Haus in der Marienstraße 14. Frieda erlernte den Beruf einer Kontoristin; sie arbeitete als solche im Kaufhaus Alfred Pfingst am Wesertor. Sie engagierte sich in der jüdischen Gemeinde und war Vorstandsmitglied im „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV)“. Emma Friederike war von Beruf staatlich geprüfte Krankenschwester und Masseurin.

Wann die beiden Schwestern das elterliche Haus verlassen haben und unter welchen Umständen es geschah, ist nicht exakt zu ermitteln. Sicher ist, dass sie ab 1939 hier in der Kampstraße 27 wohnten. Wie alle Jüdinnen und Juden litten sie unter der zunehmenden Entrechtung und Verfolgung. Wann sie deportiert wurden und in welches Lager man sie verschleppte, ist nicht mehr zu ermitteln, auch nicht der Zeitpunkt ihres Todes. Sie sind verschollen.